Interview: Kupierverzicht – Aspekte zur Buchtenstrukturierung sowie Empfehlungen aus der Beratungspraxis
In einer mehrteiligen Web-Seminarreihe für ISN-Mitglieder im November wurden einige mögliche Ursachen für Schwanzbeißen vorgestellt, um die Zusammenhänge besser verstehen und praktische Ansatzpunkte für den Einstieg in den Kupierverzicht finden zu können. Im zweiten Teil hat Dr. Veronika Drexl von der Schweinespezialberatung Schleswig-Holstein entscheidende Faktoren der Buchtenstruktur sowie Stellschrauben in der Haltungsumgebung vorgestellt und Empfehlungen aus der Praxis gegeben. Wir haben sie im Nachgang gebeten, einige zentrale Fragen dazu zu beantworten.
Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Erfolgsfaktoren, um auf das Kupieren der Schwänze verzichten zu können?
Die entscheidenden Erfolgsfaktoren für den erfolgreichen Kupierverzicht liegen im Management. Dabei ist es wichtig, Abweichungen im Tierverhalten oder in der Haltungsumgebung schnell zu erkennen und umgehend zu handeln. Ebenso entscheidend sind optimale Haltungsbedingungen, insbesondere das Futter- und Wasserangebot, das Stallklima sowie ausreichend Beschäftigungsmaterial. Darüber hinaus trägt eine gute Tiergesundheit wesentlich zum Erfolg bei.
Welche typischen Fehler oder Herausforderungen sehen Sie derzeit noch in der Praxis, wenn es um den Kupierverzicht geht?
In der Praxis zeigt sich, dass die wesentlichen Herausforderungen beim Kupierverzicht darin bestehen, die passenden Stellschrauben für jeden Betrieb individuell zu ermitteln. Jeder Betrieb hat unterschiedliche Voraussetzungen, sodass pauschale Lösungen selten zielführend sind. Ziel soll es sein, die Stresstoleranz der Tiere zu erhöhen, etwa indem kurzfristige Unterbrechungen im Futterangebot toleriert werden können, ohne dass es zu Verhaltensauffälligkeiten kommt. Gleichzeitig ist es jedoch ebenso wichtig, Stress aktiv zu minimieren, beispielsweise durch ein kontinuierliches und attraktives Angebot an Beschäftigungsmaterial.
Welche Stellschrauben können Landwirte in Bezug auf die Haltungsumgebung besonders wirkungsvoll nutzen, um Schwanzbeißen vorzubeugen?
Stellschrauben zur Vorbeugung von Schwanzbeißen liegen in der gezielten Optimierung der Haltungsumgebung unter Berücksichtigung der natürlichen Bedürfnisse des Schweins. Eine klar strukturierte Bucht, in der Liege-, Aktivitäts- und Kotbereich eindeutig voneinander getrennt sind, bildet dabei die Grundlage. Das Sozialverhalten der Schweine spielt eine wichtige Rolle, da viele Verhaltensweisen synchron ausgeführt werden. Daher sollten sowohl die Fressplätze als auch der Liegebereich ausreichend groß dimensioniert sein, um Konkurrenzsituationen zu vermeiden. Für ein ausgeprägtes Ruheverhalten benötigen die Tiere dunkle, geschützte Ecken ohne Durchgangsverkehr; entsprechend sollte der Liegebereich in einer ruhigen, abgeschirmten Zone mit geschlossenen Seitenwänden eingerichtet werden. Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Erkundungsverhalten, da Schweine einen Großteil ihres Tages damit verbringen möchten, ihre Umgebung zu erkunden und ihren Rüssel einzusetzen. Attraktive und manipulierbare Beschäftigungsmöglichkeiten sind daher empfehlenswert.
Auch das Futter- und Wasseraufnahmeverhalten sollte berücksichtigt werden. Empfohlen werden ein enges Tier-Fressplatz-Verhältnis und das Trinken aus einer offenen Wasserfläche. Zur Erfüllung des Komfortverhaltens sollte Scheuern oder Abkühlen ebenfalls ermöglicht werden. Zudem ist beim Ausscheidungsverhalten darauf zu achten, dass die Funktionsbereiche klar getrennt sind und der Kotbereich möglichst weit vom Liegebereich entfernt liegt. Zur Unterstützung des natürlichen Territorialverhaltens können Kontaktgitter sinnvoll sein. Abschließend spielt auch das Fortbewegungsverhalten eine wichtige Rolle. Die Tiere sollten genügend Raum haben, um sich zwischen den Funktionsbereichen bewegen zu können.
Welche Maßnahmen würden Sie bei einer Havarie empfehlen?
Im Falle einer Havarie, also eines akuten Auftretens von Schwanzbeißen, sollten sofortige Maßnahmen ergriffen werden. Dazu zählt die Trennung der betroffenen Tiere sowie die Erweiterung des Beschäftigungsangebots. Auch Futter- und Wasserressourcen sollten auf ihre Funktion überprüft werden. Gleichzeitig müssen die Klimabedingungen im Stall kontrolliert werden, um mögliche Stressfaktoren, wie eine nicht passende Temperatur im Abteil, zu identifizieren.
Welchen Einfluss hat das Angebot von Beschäftigungsmaterial auf den Kupierverzicht bzw. die Vermeidung von Schwanzbeißen?
Das Beschäftigungsangebot hat einen erheblichen Einfluss auf die Vermeidung von Schwanzbeißen. Schweine besitzen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Erkundung und Manipulation ihrer Umgebung. Wird dieses Grundbedürfnis nicht erfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Tiere sich gegenseitig manipulieren, was zu Schwanzbeißen führen kann. Die Bereitstellung geeigneter Beschäftigungsmaterialien wirkt dem entgegen.
Gibt es neue Forschungsergebnisse oder Entwicklungen, die Sie für die Zukunft besonders wichtig halten?
Forschungsergebnisse zeigen, dass Schwanzbeißen, das z.B. aufgrund eines unbefriedigten Erkundungs- und Wühltrieb entsteht, bereits bis zu einer Woche vor dem Auftreten sichtbarer Verletzungen erkannt werden kann. Ein zentraler Indikator hierfür ist die Schwanzhaltung. Aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung, die Schwanzhaltung unkupierter Tiere täglich zu beobachten. Sobald einige Tiere in der Bucht ihren Schwanz nicht mehr geringelt oder erhoben tragen, sollte interveniert werden, da dies häufig das erste Anzeichen für ein aufkommendes Problem darstellt.
Wenn Sie den Landwirten eine zentrale Empfehlung für den Kupierverzicht mitgeben könnten – welche wäre das?
Die wichtigste Empfehlung für den Kupierverzicht besteht darin, die betriebsindividuellen Stellschrauben gezielt zu ermitteln. Sinnvoll ist es, zunächst mit einer kleinen Gruppe unkupierter Tiere zu starten. Auf dieser Grundlage können die relevanten Punkte optimiert werden. Erst wenn diese Maßnahmen zuverlässig in einer Kleingruppe funktionieren, sollte der Betrieb schrittweise auf größere Gruppen umstellen.

